Die Idee hinter KunstKlusiv

Als wir im Sommer 2018 begannen, uns mit der Idee einer Ausstellung anlässlich des 130jährigen Jubiläums der Hildesheimer Blindenmission zu beschäftigen, waren wir sofort davon überzeugt, dass die Arbeiten der Ausstellung auch Besucher:innen mit Sehbeeinträchtigung zugänglich sein sollten.

 

Also eine Ausstellung zum Anfassen???

 

Die Vorstellung, Menschen mit Sehbeeinträchtigung in der Wahrnehmung von Kunst allein auf ihren Tastsinn zu reduzieren, erschien uns einschränkend, ja sogar in gewisser Weise diskriminierend.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen sollen einbezogen sein in die Erfahrung von Kunst, teilnehmen können an diesem Erlebnis und selbstbestimmt mit Kunst interagieren.

 

Damit war unser Thema gefunden: Gesucht war eine künstlerische Stellungnahme im Spannungsfeld zweier unterschiedlicher Erlebniswelten – Menschen mit und ohne Sehbeeinträchtigung.

 

Erste Recherchen ergaben, dass sich vor uns nur wenige Ausstellungsmacher:innen außerhalb der Blinden- und Sehbehinderten-Verbände auf diese Herausforderung eingelassen hatten. In den 1980ger und 1990ger Jahren hatten sich Museen für angewandte Kunst in Hamburg und in Frankfurt/Main an ein breiteres Publikum gewandt mit dem Versuch, allen gleichermaßen – Besucher:innen mit Sehbeeinträchtigung eingeschlossen – ein möglichst gleichwertiges Kunsterlebnis zu verschaffen. Hier blieb die Rezeption der Werke auf das Anfassen beschränkt, Aufforderungen wie „Berühre mich“ galten in dieser Zeit als revolutionär und konnten nur im Rahmen der angewandten Kunst umgesetzt werden.

 

Das museumspädagogische Konzept „Tasterfahrungen“ nicht mehr nur als Materialprobe einzusetzen, sondern mit der Absicht, die Arbeiten dadurch umfassend erlebbar zu machen, war dabei der erste Schritt auf dem Weg in eine neue Kunstrezeption. Dieser Umbruch sollte zu der Erkenntnis führen, dass die Aktivierung des/der Betrachtenden zur Vollendung des Kunstwerkes zu neuen Wegen in der Wahrnehmung und im Verständnis zeitgenössischer Kunst führen würde. Das Auge kann vieles entdecken, in letzter Konsequenz erschließen sich Arbeiten in ihrer emotionalen Qualität und in ihrer Psychologie erst in einer multisensorischen Wahrnehmung. Die Einbeziehung des/der Betrachtenden in das Kunstwerk verläuft hierbei parallel zu den Auflösungstendenzen der klassischen Kunstgattungen. Deutungen einzelner Werke lassen sich nicht mehr einfach aus einem überlieferten Formenkanon ableiten, sondern stellen diesen mit ihrer mehrsinnlichen Wahrnehmung in Frage.

 

Inklusion besitzt heute einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft, aber immer noch tun sich Ausstellungsmacher:innen und Museen schwer damit, eine Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen wirklich umzusetzen. Das ist oft historischen Gegebenheiten, wie alten Gebäuden oder empfindlichen Sammlungen und Exponaten geschuldet. Leider fehlt aber auch häufig das Verständnis dafür, was Menschen mit Beeinträchtigungen wirklich benötigen, um sich einbezogen zu fühlen und um Kunst gleichberechtigt wahrnehmen zu können.

 

Wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang, vom Konzept der „Übersetzung“ von Kunstwerken abzugehen. Kunst als solche soll universell erlebt werden können – gerade auch von Menschen mit Beeinträchtigungen. Innerhalb dieser Gruppe scheinen Menschen mit Sehbeeinträchtigungen besonders im Nachteil zu sein. Sehen und Kunst wird vielfach zusammengedacht, das eine scheint vielen ohne das andere nicht möglich zu sein.

 

Dass dem nicht so ist, zeigen die Arbeiten der hier ausgestellten Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Japan, Korea und Peru. Zeitgenössische Kunst ist in der Lage Formen und Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, die alle Menschen gleichermaßen ansprechen und Kunst so mit allen Sinnen erlebbar machen kann. Das ist nicht nur für Menschen mit Sehbeeinträchtigung eine völlig neue Erfahrung, auch allen anderen eröffnen sich hier neue Aspekte der Rezeption.